Mythos: Sedativa machen das Arbeiten leichter



Ja wieder so ein Thema an dem die Nation sich spaltet. Haben Sie sich schon einmal selbst dabei erwischt, dass Sie dem Pflegebedürftigen, ein Sedativa verordnen haben lassen um sich selbst die Arbeit zu erleichtern. Oftmals passiert dies auch unter dem Deckmantel anderen Pflegebedürftige oder Kollegen zu schützen. Ein bisschen Promethazin hier, ein bisschen Mirtazapin dort oder vielleicht doch besser Lorazepam. Meist ist die Gabe dieser Medikamente aber in Wirklichkeit mit der trügerischen Hoffnung verbunden es für alle Parteien angenehmer zu machen.

Doch was passiert meisten wirklich, wenn Sie diese Medikamente verordnen lassen?

In den meisten Fällen geht die Gabe dieser Medikamente direkt mit einer Verschlechterung der Fähigkeiten des pflegebedürftigen Menschen einher, wie z.B. keine selbstständige Nahrungsaufnahme mehr, eingeschränktes Gehvermögen, verringerte Eigenbewegung. Die Folge ist dann tatsächlich ein Mehr an Aufwand. Sie müssen plötzlich Essen anreichen, bei der Mobilisation helfen oder gar lagern. Im schlimmsten Fall führt eine Sedierung zum Entwickeln von Druckstellen, zu Stürzen oder gar zum Tod. Mal abgesehen davon, dass jedes zusätzliche Medikament dem Menschen schadet. Dazu gibt es eine Faustregel, bekommt ein Mensch mehr als 7 verschiedene Medikamente schaden diese sicher mehr, als sie ihm helfen.

Wie kommt es dann, dass immer noch relativ viele Sedativa verordnet werden?

Der Hauptgrund ist sicher der Zeitmangel, welcher in der Pflege allgegenwärtig ist. Auch wenn die Verordnung realistisch nicht zu einer Erleichterung führt, fühlt es sich aber anfangs tatsächlich so an. Ein zweiter Grund ist sicherlich das weit verbreitete mangelhafte Fachwissen, wie man mit psychisch auffälligen Menschen richtig umgeht.

Warum verschreiben Ärzte dann so viele Sedativa, wenn diese doch so schädlich sind?

Mal ehrlich, die meisten Ärzte verlassen sich auf die Einschätzung der Pflegekräfte. Das kann man ihnen auch gar nicht verübeln, denn die Pflegekräfte sehen und erleben die Pflegebedürftigen jeden Tag, rund um die Uhr. Ärzte oftmals nur wenige Minuten während der Visite.

Welche Alternativen gibt es?

Die Alternativen sind mannigfaltig und genau so individuell wie der Mensch selbst. Sie reichen von Gruppentherapien, über Einzelgespräche bis hin zu Beschäftigungsmaßnahmen.  Eins haben alle Methoden allerdings gemeinsam, sie benötigen fundiertes Fachwissen, Erfahrung und etwas Mut. Ich möchte nicht abstreiten, dass die Methoden im ersten Moment zeitintensiv sind, aber auf Dauer werden alle Seiten davon profitieren. Ich habe Menschen erlebt, die nach dem Absetzen der Sedativa, nach 2 Jahren im Bett als schwerstpflegefall, wieder gelernt haben am Rollator zu laufen und selbstständig zu essen. Aber das wichtigste ist, dass diese Menschen wieder lernen zu lächeln und zu Leben.

Was gibt es noch zu beachten im Umgang mit Sedativa?

In den letzten Jahren wurde verstärkt auf freiheitsentziehende Maßnahmen geachtet. Dazu gehört auch die Einnahme von sedierenden Medikamenten. Das heißt, wenn Sie eine Anordnung nicht stichhaltig begründen können, begehen Sie eine Straftat.
Ähnliches gilt auch in Bezug auf das erhöhte Sturz- und Dekubitusrisiko. Dies kann durchaus fahrlässige Körperverletzung sein.
Ja, die Hauptverantwortung tragen die Ärzte, aber wenn diese nachweisen können falsche Informationen von der Pflege erhalten zu haben und Sie dann nicht sicher in Ihrer Dokumentation nachweisen können alles getan zu haben, diese Fälle zu verhindern. Dann sind auch Sie strafrechtlich und finanziell zu belangen.

Was also tun?

Vermeiden Sie den Einsatz von Sedativa, und bilden Sie sich fort in den Alternative. Haben Sie den Mut, Menschen wieder ein Leben zu geben. Und um Himmels willen, nehmen Sie niemals einem Übergriff (welcher Art auch immer) persönlich, sondern versuchen Sie zu verstehen warum dieser Mensch so gehandelt hat. In diesem Zusammenhang möchte ich auch nochmal darauf hinweisen wie wichtig eine gute Biographie-Arbeit ist.

Zum Abschluss möchte ich Sie zum Durchhalten animieren. Die Erfahrungen zeigen, dass es ein langer Weg ist, die Sedativa aus den Köpfen der Pflegekräfte zu bekommen und die „neuen“ Methoden hinein. Außerdem kann es teilweise auch lange dauern, bis Sie den richtigen Weg für den jeweiligen Pflegebedürftigen gefunden haben. Aber genau das ist doch der Grund, warum die meisten Menschen in der Pflege arbeiten, um anderen Menschen das Leben wieder lebenswert zu machen.

© Heiko Pietsch

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