Erinnerungen eines Altenpflegers – Teil 2: Es ist nicht, wie es scheint



So dann komme ich  zum zweiten Teil meiner Erinnerung, an diesen durch aus schönen Beruf.

Diesmal geht es um einen Mann der schon längeren Zeit im Pflegeheim lebt. Ich hatte mein Examen gerade mal ein Jahr und wechselte die Station in dem Haus in dem ich damals gearbeitet habe. Auf dieser Station lebte besagter Herr bereits seit einigen Jahren. Er war der deutschen Sprache kaum mächtig und lag immer nur im Bett. Die Schwestern erzählte oft wie anstrengend es sei ihn zu versorgen. Sätze wie „Der hat sich so gewehrt wir konnten ihn zu zweit kaum versorgen“ oder „Er ist schon wieder von Kopf bis Fuß eingenässt“ waren an der Tagesordnung. Oft wurde sogar diskutiert wer ihn versorgen soll. So war es bei mir als Neuling auf Station auch lange Zeit so, dass ich ihn gar nicht versorgt habe und es wie ich gestehen muss auf Grund der Erzählungen auch gemieden habe. 

Doch was war eigentlich das Problem? Ja er sprach unsere Sprache nicht. Er hatte extreme Kontrakturen und Schluckstörungen, so dass er nur passierte Kost haben konnte. Dadurch war er zusätzlich sozial isoliert.

So oder so ließ es sich halt nicht auf Dauer vermeiden, dass ich ihn nicht auch einmal versorgen musste. Ich bin natürlich schon mit entsprechend negativer Einstellung zu ihm gegangen und war deshalb nicht so aufmerksam wie gewohnt. Doch ein fand ich doch merkwürdig. Er lag seit fast 2 Jahre nur im Bett und sollte starke Kontrakturen haben, aber keinen Spitzfuß hatten wie es bei den Meisten war. Aber trotzdem war ich auch entsprechend genervt als ich sein Zimmer verließ. Es war genauso, wie immer alle gesagt haben.

Doch irgendwie ging mir das mit dem Spitzfuß nicht aus dem Kopf und ich schaute mir nochmal seine Akte an. Die Diagnosen deuten nicht auf etwas Entsprechendes hin. Auffällig war, dass er viele Sedativa bekam und trotzdem noch so extrem wehrig war. Ich beschloss ihn eine Zeitlang zu versorgen, wenn ich im Dienst war. Alle anderen wunderten sich zwar, aber nahmen dies gerne hin. Nach wenigen Versorgung war ich mir relativ sicher, dass es sich nicht um Kontrakturen handelte, sondern nur extreme Körperspannungen. Des Weiteren fiel mir auf, dass er tatsächlich versuchte mit mir zu reden, aber da ich dem russischen nicht mächtig bin habe ich ihn nicht verstanden. Aber auch eine russische Kollegin konnte ihn auf Grund der Aussprache nicht verstehen. 

Also fing ich an mit Ihm im Bett Bewegungsübungen zu machen. Seine Beine waren voll beweglich, aber die Spannungen gingen dadurch nicht weg. Bei der nächsten Visite lies ich unter Protest der Kollegen die Sedativa reduzieren. Dies führte dazu, das die Kollegin ihn irgendwann verstehen konnte und sich herausstellte, dass er tatsächlich zu einer Willensäußerung fähig ist. Daraufhin haben wir angefangen ihm Milchbrötchen statt passierte kost zu geben und zum Mittag weiche Lebensmittel. Denn seine Schluckstörungen nahmen auch stark ab, da wir mittlerweile die Sedativa ganz abgesetzt hatten. 

Doch es blieben weiter 2 Probleme und nach dem Erfolg hatte mich der Ehrgeiz gepackt. An einem Tag habe ich es mit Hilfe eines Kollegen einfach mal gewagt. Ich habe seine Bewegungsübungen gemacht um die Muskulatur weicher zu machen und dann haben wir ihn an seinen Rollator gestellt. Durch die Spannungen viel er auch nicht um als wir Ihn losließen. Die ersten Tage schoben wir Ihn mehr als dass er lief, aber über die Wochen konnte er irgendwann ca. 50-100m an Stück alleine am Rollator laufen. Die daraus resultierende Erschöpfung führte dazu, dass wir Ihn tatsächlich in einen Rollstuhl setzen konnten und er am Tisch im Essraum seine Milchbrötchen oder auch mal ein Ei alleine essen konnte. Auch Obst zwischendrin konnte er nun alleine Essen. 

Er blühte tatsächlich richtig auf. Sprach mit den Pflegekräften und den anderen Bewohner, auch wenn sie ihn nicht verstanden und konnte sogar ab und zu lachen. Morgens ging ich mit Ihm auch immer mal wieder über den Balkon, wo er gerne
die Sonne genoss und es liebte an den Blumen zu riechen. Es war schön zu sehen, dass es doch immer wieder Menschen gibt, die im Pflegeheim noch einem richtig anfangen können zu leben. Klar er war immer noch sehr eingeschränkt, aber er konnte wieder ein soziales Umfeld aufbauen und auch mal lachen.

Aber besonders war auch die Begegnung mit seiner Tochter. Diese kam in der Regel einmal die Woche und hatte die ganze Leidensgeschichte mitbekommen. Es war eine Genugtuung zusehen, dass sie vor Freude anfing zu weinen, als sie die Station betrat und ihren Vater am Rollator auf sich zulaufen sah.

Also denkt immer daran, hinterfragt ruhig mal die angeblichen Tatsachen. Geht immer mit offenen Sinnen in die Pflege und vertraut auf euren Instinkt.

© Heiko Pietsch  

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